Der naive Humanismus glaubt an einen freien Willen, der sich in Gesellschaften zu einem Gesamtwillen ausbildet. Was in einer ('demokratischen'/parlamentarischen) Gesellschaft geschieht, wird ausdrücklich (etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland) als Ergebnis von Willensbildung und Willensäußerungen betrachtet.
Demnach entscheidet eine Mehrheitsmeinung über die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit. In dieser Vorstellung wird die ältere, religiöse Überzeugung von Gottes Willen und Allmacht in die Allmacht des Menschenwillens überführt. Es ist eben nicht mehr Gott, sondern der Mensch, dessen Wille geschieht.
Gut und Böse
Dieser Humanismus ist Folge und Basis einer moralischen Weltsicht. Die Existenz von Gut und Böse erfordert ideelle Mächte, die sich in der Wirklichkeit nicht erklären lassen. Etwas oder jemand ist böse, weil er es eben ist, daher ergeben sich seine Handlungen nicht aus seinen Lebensbedingungen und seiner Vorgeschichte, sondern aus Eigenschaften, die ihm innewohnen. Er handelt so, weil er so ist.
Das Böse kann von ihm allerdings abfallen, wenn er ihm entsagt, sich läutert, bereut und büßt. Dem Guten wiederum muss er sich zuwenden, ihm dienen wollen und sich der Gemeinschaft der Guten und Moralischen anschließen. Das Böse kann ihn derweil verführen oder ihn völlig korrumpieren.
Die Menschen sind so
Diese Weltsicht ergibt sich aus den Vereinfachungen, die ein Alltagsverstand zwangsläufig leisten muss, um sich nicht zu überfordern. Das hat wenig mit den Fähigkeiten des Einzelnen zu tun; hochintelligente Menschen machen das grundsätzlich gar nicht anders als intellektuell begrenzte. Es funktioniert ja im Alltag und im Kleinen so. Die Beurteilung von Menschen im persönlichen Umfeld, Sympathien, Gefühle und das Durchsetzen eines Willens gegen den anderen prägen diese Sphäre.
Zudem ist sie das, was Menschen von Kindesbeinen so und kaum anders erleben. Wenn dann auf jeder gesellschaftlichen Ebene die Entscheidungen von Gesprächen und Handlungen begleitet werden, in denen diese Muster ebenfalls bedient werden, liegt es nahe, zu glauben, die Welt drehe sich um diese menschliche Dimension. Das aber ist ein fataler Irrtum. Wille und Moral sind nicht die Ursache der Ordnung, sondern eine Projektion, die Konflikte schürt und Rationalität unterdrückt.
Oktober 4th, 2022 at 21:48
Ich glaube gar nicht mal, dass Mythen und Narrative – das sind ja die Orte, an denen Wille und Moral verhandelt werden – an sich das Problem sind. Die Probleme beginnen vielmehr dann, wenn und insofern sie sich von der Realität entfernen. Vielleicht besteht eine der wichtigsten Aufgaben der Rationalität darin, genau das immer wieder zu überprüfen.
Oktober 4th, 2022 at 22:24
Ich fürchte, sie kreuzen die Realität nach eigenen Gesetzen und daher gern selten. In der Konkurrenz kann Rationalität im Framing dieser Gesellschaft immer noch sehr schlecht bestehen. Mir geht es aber darum, erst einmal überhaupt aufzuzeigen, was Moral ist, wie sie funktioniert und dass sie durchweg destruktiv wirkt – im Gegensatz zur einer möglichen Ethik. Hier stelle ich mal Fetzen daraus ein, die man auch unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachten kann. Ich hoffe, das wird einmal ein Buch.
Oktober 5th, 2022 at 08:31
Der aktuell interessanteste Bruch eines Narrativs kommt aus UK. Seit 1980 galt in allen westlichen Ökonomien das Axiom:
"Wirkt eine neoliberale Theorie nicht, dann war die Dosis zu schwach".
Kwasi Kwarteng, Apologet der MMT, sein ganzes Arbeitsleben in der City verbracht, also in den Finanzzentralen bestens vernetzt, verkündet als Finanzminister die reine Lehre: "Steuersenkungen für Reiche, mehr Staatsschulden, usw." Und was machen die Adressaten der frohen Botschaft, sie stimmen so heftig mit den Füßen ab, dass die BoE Bonds ankaufen muss, damit die Wirtschaft nicht crasht und der Master of Desaster, Sleepy Joe, zur Rücknahme der Steuerpläne aufruft.
Also, nicht einmal der Petersdom des Kapitalismus, die City of London, glaubt noch den neoliberalen Bullshit der Voodoo-Ökonomie, und nu?
Oktober 5th, 2022 at 12:37
Neues aus der Werterepublik: Passauer Amt lockt Iraner in die Abschiebe-Falle
Mit einer Lüge hat das Landratsamt einen Geflüchteten vorgeladen und festnehmen lassen. Nun soll er nach Teheran ausgeflogen werden – obwohl dort die größten Unruhen seit Jahren herrschen.
Das ist sicher diese Moral, die sich leider öfter ändern kann.
Oktober 5th, 2022 at 15:54
Mir geht es aber darum, erst einmal überhaupt aufzuzeigen, was Moral ist, wie sie funktioniert und dass sie durchweg destruktiv wirkt – im Gegensatz zur einer möglichen Ethik.
Ich habe bei diesem Thema ja immer ein wenig das Gefühl, dass du das Kind mit dem Bade ausschüttest. Wenn ich dich richtig verstehe, wendest du dich doch eigentlich nur gegen das Konzept einer der jeweiligen Person (oder Entität, zB einem Staat) innewohnenden 'Moralität', anders gesagt nicht einzelne Handlungen (in ihrem jeweiligen Kontext) moralisch zu bewerten, sondern den jeweils Handelnden in seinem 'So-Sein'. Was dann wiederum zu diesen unhaltbaren Konstruktionen wie 'das Böse schlechthin' führt.
Verstehe ich dich so weit richtig?
Oktober 5th, 2022 at 16:02
Nope. Das geht viel weiter. Es ist schon im Gehirn ein völlig anderer Vorgang, es ist strukturell etwas völlig anderes, wenn du nach gut/böse kodierst und dabei auch noch auf (quasi-)religiöse Werte zurückgreifst und es ist vor allem immer wieder eine Entscheidung, ob man eine rationale Basis wählt oder eine irrantionale. Moral ist immer Letztere. Das identitäre Moment ist eine (ggf. die wichtigste) Strategie dabei.
Oktober 5th, 2022 at 16:37
Wie willst du dann eine Ethik konstruieren, die (mögliche) Handlungen nicht nach dem Schema 'kann/sollte man machen' vs 'kann/sollte man nicht machen' kodiert? Das Wertepaar 'gut/böse' kann man könnte man ja auch so interpretieren, oder geht es dir tatsächlich um diese konkreten Vokabeln und ihre (eben quasi-religiösen) Konnotationen?
Oktober 5th, 2022 at 16:45
Du kannst 'gut und böse' gar nicht von ihren religiösen Wurzeln trennen und es gab nie eine Moral, die nach "kann/sollte man machen" strukturiert war. Guck dir doch mal an, was in der öffentlichen Debatte passiert, das ist so emotional getränkt vom absolut Bösen und den Guten mit ihren Helden, da ist nirgends eine erwachsene Ethik am Werk. Die Jursiprudenz kommt der recht nahe mit ihren Regeln und Strukturen, sie operiert aber nicht bloß mit Strafe, sondern ernsthaft mit einer Schuld, der man auch noch eine "Schwere" beimessen kann.
Ethik macht genau das: Sie fragt, was wünschenswert ist, was nicht, was gefördert und gehemmt werden soll, sowie nach effizienten Maßnahmen dafür. Es geht ihr nicht um Schuld, Bosheit oder angemessene Strafen; es geht nur darum, wie man vereinbarte Ziele erreichen kann. Nichts ist ewig, heilig oder böse. Wie gesagt nimmt das Denken im Gehirn völlig andere Wege, wenn Probleme so angegangen werden. Sobald es das Böse, das Gute, Schuld, Strafe oder Vergeltung gibt, übernimmt der Neandertaler.
Oktober 5th, 2022 at 18:17
Es ist eben dieser sehr speziell eingeschränkte Moralbegriff, der deine Texte zu dem Thema, jedenfalls für mich, immer etwas sperrig machen. Ich wüsste aber auch nicht, wie man das sonst bezeichnen könnte, 'Vulgärmoral' vielleicht? Ich tue mich auch schwer damit, einen emotionalen, ja sogar religiösen (oder vielleicht besser spirituellen) Ansatz von vornherein zu verwerfen, er sollte nur nicht unhinterfragt walten dürfen. Das ist für mich die Aufgabe der Rationalität als Werkzeug, sie sozusagen absolut zu setzen scheint mir kein geringerer Fehler als 'rein emotional' zu reagieren. Die Verdrängung der Gefühle gebiert Monster; die Rationalität gerät zur 'instrumentellen Vernunft' ohne Ziel oder Sinn. Die Frage 'Was wollen wir?' muss gestellt werden, und ich bezweifele, dass sie sich rein rational beantworten lässt.
Und das scheint mir auch das eigentliche Problem der gegenwärtigen Situation und Debatte – die Moral dient eben einer solchen Zweckrationalität, die sich über ihre Ziele, ihren Sinn keine Rechenschaft ablegt bzw ablegen will, nur als Feigenblatt. Da torpediert man schon mal die 'Lebensader' eines 'befreundeten Staates', wenn's der guten Sache dient bzw der bösen schadet. 'Moralisch' ist eine solche Handlung aber gerade nicht. Vom Anzetteln eines Krieges, um sich eine räuberische Hegemonialstellung zu erhalten, ganz zu schweigen. Die Überlegungen und Ziele unserer Handelnden sind doch gerade nicht von der Moral geprägt, die sie rhetorisch vertreten.
Oktober 5th, 2022 at 18:32
"ich bezweifele, dass sie sich rein rational beantworten lässt. "
Ich nicht. Warum auch? Erstens muss der Modus, in dem ethisch verhandelt wird d.h. die Ordnung definiert wird, die gelten soll, und die Maßnahmen, die sich dazu eignen, rational sein. Sonst landen wir beim Recht des Stärkeren. Zweitens gibt es Rationalität präziser und zuverlässiger her, Ziele zu formulieren, und zwar schon aus dem Bewusstsein über die Folgen. So lässt sich völlig rational herleiten, dass das Töten von Menschen tabu sein muss, weil sich sonst eine Ordnung nicht erhalten lässt. Soll Gleichheit gelten, so geraten sofort die Bedingungen dafür in den Fokus (während Moral so etwas salbadert wie dass es gleiche Chancen gibt und jeder kriegt, was er verdient).
Probleme wie Freiheit (z.B. von autoritärer Herrschaft) kann auch Moral nicht letztbegründen. Ethik kann hier alledrings aufzeigen, welche Folgen Autokratie zeitigt und welche inneren Widersprüche sie erzeugt. Was will ich da mit Emotionen? Es gibt keinen universellen emotionalen Grund, Menschen nicht zu quälen, aber durchaus sachliche.
"Die Überlegungen und Ziele unserer Handelnden sind doch gerade nicht von der Moral geprägt" – das ist spekulativ. Sie sind aber absolut kompatibel mit Moral, insofern moralisch ist, was dem Bösen schadet. Es gibt in Moral keine Pflicht zur Widerspruchtsfreiheit, im Gegenteil. Zeitgemäße Ethik hingegen ist wissenschaftlich orientiert. Logisch, sich der Folgen bewusst, überprüfbar und übertragbar. Verfasstes Recht versucht das ja wie gesagt weitgehend, aber eben nicht konsequent und zu sehr von Partikularinteressen verkrustet.
Oktober 5th, 2022 at 19:17
Kleiner Nachsatz: Ich höre da auch immer einen Adorno durch, aber ich fürchte, dass sein berechtigter Einwand gegen einen (Rechts-)Positivismus nicht zu Ende gedacht ist. Es mag ja sein, dass ein mit reichlich Spiegelneuronen ausgestatteter Mensch meint, es gebe eine nichtrationale Instanz, die zuverlässig das Schlimmste verhindert, aber da irrt er. Es gibt nämlich noch auch reichlich von den Anderen.
Oktober 5th, 2022 at 19:40
Es gibt keinen universellen emotionalen Grund, Menschen nicht zu quälen, aber durchaus sachliche.
Es gibt Empathie, und es gibt Vorstellungsvermögen, die eine intuitive emotionale Abneigung gegen das Quälen von Menschen oder überhaupt Lebewesen auslösen. Es gibt dagegen keine sachlichen Gründe, wenn ich gleichzeitig durch wiederum (zweck-)rationale Überlegungen und Handlungen sicherstellen kann, zB als Stärkster weit und breit selbst nicht gequält zu werden. Und genau das scheint mir die durchrationalisierte Sackgasse zu sein, in der sich insbesondere der Westen zZt befindet.
Sozio- und Psychopathen leiden unter einem emotionalen Defizit, nicht einem an Rationalität.
ps – vor der Lektüre des Nachsatzes geschrieben.
Oktober 5th, 2022 at 19:50
Noch kurz zum Nachsatz und dann Schluss für heute: natürlich verhindern Spiegelneuronen nicht zuverlässig das Schlimmste, das kann tatsächlich nur eine Ethik, und die leider auch nicht wirklich. Aber die Basis für die Ethik liegt dort.
Oktober 5th, 2022 at 20:19
Da liegen wir überkreuz. 'Empathie' kann ein Motiv sein, aber gerade Moral versteht, sie zu missbrauchen (die armen Kinder, die von den Russenschweinen vergewaltigt werden). Das taugt nicht. Du kannst Quälerei hingegen nicht begründen. Wenn du deren Effekte zu Ende denkst, ist sie nämlich absolut destruktiv. Zudem hat eine Ethik, die sich so absichert, den Vorteil, dass sie sich sicher nicht dafür verantworten muss, Menschen nicht quälen zu wollen. Es werden immer die in der Mehrheit sein, die das nicht wollen. Bei sich nicht und in der Konsequenz eben auch für eine stabile Ordnung nicht. Du kriegst aber (siehe Beispiel oben) in Sekunden eine Konstruktion zusammen, wie du jede Empathie gegen sich selbst wendest.
Die Basis für Ethik sind Allgemeingültigkeit und Stabilität, nicht gute Wünsche.
Oktober 9th, 2022 at 16:15
"Der Bewerber ist charakterlich stabil, er hat ein hohes Verantwortungsgefühl, er ist zuverlässig und in seiner Grundhaltung anständig. Konsequenz, Entschlossenheit und Realismus hat er durch die Illegalität, in der er bis 1953 lebte, bewiesen. Moral und Ethik sind ihm feste Begriffe; sie waren und sind mitentscheidend und richtungsweisend für den Verlauf seines Lebens."
Als anständig galt beim BND nach 1945 nicht, wer sich dem Morden verweigert hatte, sondern wer frühere Kameraden nicht verpfiff und den alten Idealen – zumindest teilweise – noch anhing.
Warum der Bundesnachrichtendienst so viele NS-Täter rekrutierte
Oktober 9th, 2022 at 18:12
"Und erst wenn man sein Personal kennt, begreift man ja erst das Agieren des frühen BND.“ Da ist ein Wort zu viel.
Oktober 15th, 2022 at 01:08
Ethik vs. Moral. Ich stimme zu, dass Ethik, die die Folgen des Handelns mitdenkt, eine wesentlich konstruktivere Handlungsbasis bildet als Moral.
Ich habe einige Jahre Ethik in Schulen unterrichtet und musste leider feststellen, dass auch KollegInnen das Prinzip nicht verstanden haben und den Unterricht v.a. in der Mittelstufe reduziert haben auf Religionen. Das kann man gut lernen und abfragen. Muss ja benotet werden (was ich z.B. kontraproduktiv finde). Mein Sohn kam eines Tages entrüstet nach Hause, weil die Ethiklehrerin behauptet hat, dass es sowas wie Freundschaft gar nicht gebe.
Der Stellenwert des Ethik-Unterrichtes war unterirdisch, bei Lehrern, Direktoren und Schülern (weibliche Personen inbegriffen),, zumal das Fach Ethik in Thüringen ja nur der Ersatz für den Pflichtunterricht Religion ist.
Mit erwachsenen Schülern war das (in meinem Unterricht) schon viel ergiebiger. Denen hat es tatsächlich Spaß gemacht zu denken,was doch mit Rationalität einiges zu tun hat. Rationalität in Verbindung mit Rationalisierung lehne ich hingegen ab, was nicht verwunderlich ist, weil ich auch wegrationalisiert wurde.
Ich frage mich also, wer sollen denn diejenigen sein, die ethische Fragestellungen zur Grundlage ihres Handelns machen und diese auch weitergeben?
Menschen denken und handeln nicht streng rational. Darum taugen sie ja auch nicht generell zum Homo Ökonomikus. Recht kann rational erklärt und umgesetzt werden, Gerechtigkeit meiner Meinung nicht.
Darum wirkt ja die Moralisierung in der Politik so gut. Meiner Meinung nach wirkt da auch das Menschenbild "unserer Eliten" kontraproduktiv und der Glaube, man könne das Verhalten von Menschen durch Algorithmen erfassen. Der Zustand, vor allem die fehlende Unabhängigkeit, der Wissenschaft verwandelt Rationalität in sein Gegenteil.
Irgenwie, scheint mir, läuft im Moment alles schief, weil eine dem Menschen nicht zuträgliche Ideologie über allem schwebt.