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Die Kleingruppe, die Politik und Medien fest in ihren Klauen hält, ist eine Mittelschichtsblase mit einer interessanten Entwicklung. Die Rechten jammern, alles sei in der Hand von 'Linken', während alles, was sich "links" nennt und in Parlamenten herumsitzt, seinerseits so rechts ist wie einst die Rechtskonservativen. Beides lässt sich erklären.

Das Management der Politik bedeutete einst für Minderheiten, dass sie sich Aufmerksamkeit verschaffen und Zustimmung einer zunächst abgeneigten Mehrheit erzeugen mussten. Das einzig wahre Mittel dazu war schon immer Moral sowie die von ihr erzeugten Emotionen wie Mitleid und Empörung.

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Moral und Emotionen bleiben nicht nur im Gedächtnis länger haften als rationale Erwägungen; ein einmal gefälltes Vorurteil ist in einem nicht durch rationale Barrieren begrenzten Diskurs kaum mehr zu revidieren. Wer je mit dem Missbrauch von Kindern öffentlich assoziiert wurde, ist gesellschaftlich erledigt. Nicht wesentlich besser ergeht es Männern, die mit dem Vorwurf belastet werden, sie hätten sich an Frauen vergangen.

Die Jurisprudenz verlangt aus besten Gründen Beweise, die über begründeten Zweifel erhaben sind, um einen Angeklagten zu verurteilen. Die Öffentlichkeit und ihre moralischen Urteile kommen ohne dergleichen aus. Die Emotionalisierung diesbezüglicher Fälle führt sogar zu einer doppelten Verkehrung der Unschuldsvermutung.

Empörender Verdacht

Nicht nur führen ausgerechnet besonders schwere Vorwürfe am ehesten zu Vorverurteilungen; ein aufgewühltes vermeintliches Gerechtigkeitsgefühl reagiert gerade auf Freisprüche noch einmal emotionaler, wenn die Einsicht in die Rationalität des Verfahrens dem Verlangen nach Genugtuung zum Opfer fällt.

Die ethischen Bemühungen eines modernen Strafrechts, das in jedem Einzelfall stets das Allgemeine im Blick haben muss, weil es eben um die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung geht, sind der immer vermeintlich höheren Moral ein Dorn im Auge. Mehr noch: Moral steht der Ethik regelmäßig feindlich gegenüber.

Wem die praktischen Ergebnisse des Strafrechts nicht passen, der glaubt in der Regel, es sei daher ungerecht und müsste korrigiert werden. Einhergehend mit der schon genannten Tendenz, nach immer 'härteren' Strafen zu rufen, kann das Strafrecht als ethisches System vor keiner Moral bestehen.

Total korrupt

So ergeht es folgerichtig auch wegweisenden Entscheidungen und Urteilen in komplexen Präzedenzfällen, dass sie in der Öffentlichkeit gar nicht zur Kenntnis genommen werden. Sie können noch so wichtig sein für die Orientierung in der Rechtspraxis und faktisch einen höheren Rang haben als Gesetze; wenn sie nicht zu allgemeiner Empörung oder Sensation taugen, wird man sie jenseits der Expertenkreise nicht weiter diskutieren, wohingegen jedes Amtsgericht belagert wird, wenn der Fall dazu taugt, Aufsehen zu erregen.

Insofern findet das ethische Werk der Gerichte grundsätzlich im Dunkeln statt, während moralisch aufladbare Nebensächlichkeiten leicht den Weg in die Öffentlichkeit finden. Dies beeinflusst wiederum die Wahrnehmung von Gerichten und ihrer Arbeit. Sie ist völlig verzerrt und trägt dazu bei, dass die meisten Bürger eine naive, unmündige Vorstellung von dem Staat entwickeln, in dem sie leben.

 
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Über Schuld wurde viel geschrieben und diskutiert. Im Zusammenhang mit Moral ist sie der Dreh- und Angelpunkt sozialer Beziehungen, auf denen Moral aufsetzt. Schuld ist vor allem ein archaisches Machtverhältnis. In jemandes Schuld zu stehen, wird heute zumeist als Folge einer Handlung gesehen, eine Art Pflicht zur Wiedergutmachung. Das ist aber schon eine mehr oder minder moderne Abstraktion eines simplen, u.a. feudalen Machtverhältnisses.

Die Pflicht gegenüber einer Person oder Institution, dem Fürsten etwa, ist ursprünglich nicht abhängig von eigenen Taten. Das Vergehen in diesem Kontext besteht schon in jeder Form des Aufbegehrens oder auch nur Anzweifelns des Machtverhältnisses. Jemand macht sich mithin schuldig, indem er das Grundverhältnis seiner Schuld nicht anerkennt.

Schuldgefühle, das 'schlechte Gewissen', Erröten und Ähnliches, werden oft als unmittelbar mit Schuld korrespondierende Phänomene betrachtet, quasi als Beweis für die Existenz von Schuld. Schon allein aber, dass Peinlichkeiten aller Art sensibleren Menschen mehr zu schaffen machen als die übelsten Ränkespiele dem routinierten Intriganten, ist ein deutlicher Hinweis darauf, das der Atavismus keinen Zugang zur Wirklichkeit hat.

Tragende Säule

Hier reagieren Menschen mit Reflexen aus fernster evolutionärer Vorzeit auf Situationen, in denen jene ganz nutzlos sind. Schuld ist in der Moderne nur mehr eine durch religiöse Vorläufer überlieferte Konstruktion ohne Realitätsgehalt. Erst als Angriffsfläche für das Management der Macht wird sie wieder zu einem relevanten Phänomen.

Wer nicht schuldig ist, kann nicht auf die damit verbundene komplexe Weise beherrscht werden. Einen Schaden kann man oft nicht wiedergutmachen, worin die moralische Abhängigkeit im Machtverhältnis besteht. Das vermeintliche Opfer wird in der moralischen Hierarchie über den Täter gestellt wie generell die mit höherem Status über die mit niedrigerem. Das kann kompliziert werden, wenn sich Erstere an zweiteren schuldig machen.

Damit das nicht zu kompliziert wird, hat sich die Struktur der Klassenjustiz etabliert, ohne die eine auf Moral basierende Hierarchie nicht aufrecht zu erhalten wäre. Insofern ist Klassenjustiz eine tragende Säule in einer solchen Gesellschaft, zumal im Kapitalismus.

 
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Das Identität stiftende Moment der Moral ist in überschaubaren Gruppen oder solchen, bei denen die Identität Basis und Ziel der Gemeinschaft darstellt (Fußballfans, Parteigänger, Nationalisten u.ä.) tragend und unverzichtbar. Im Satz "Wir sind die Guten" gerinnt die Identität von Moral und Gruppe, von wir vs. sie und gut vs. böse. Dies ist aus Sicht jeder identitären Gruppe alternativlos.

Im Zusammenhang mit vorzeitlichen Clanstrukturen war diese Haltung zum Überleben notwendig wie Flucht- und Aggressionstriebe. In modernen Massengesellschaften ist dieser Ansatz aber ersichtlich unterkomplex, sprichwörtlich unzivilisiert und entsprechend schlicht dumm. Dennoch bricht sich diese Struktur immer wieder Bahn, nicht eben bloß in Spielveranstaltungen wie Fußball, sondern auch und gerade in internationalen Kriegen und der sie begleitenden Kriegspropaganda.

Sand in den Kopf

Ein enormes Maß an Dummheit ist dabei erforderlich, die völlige Ignoranz gegenüber dem latenten Wissen aller darum, dass die andere Seite sich gar nicht unterscheidet, sondern ein Spiegelbild der eigenen ist. Das wurde zur Genüge aufgearbeitet, es gibt haufenweise Literatur darüber, wie dies funktioniert und welche Strategien dabei wann von wem eingesetzt wurden, aber sobald es opportun erscheint, erweist sich nach wie vor die plumpeste Lüge über die Bosheit des Feindes und seiner finsteren Absichten als geeignetes Mittel, die Reihen der Folgsamen zu schließen.

Besonders erbärmlich dabei ist, dass die angeblich der Aufklärung dienstbaren Massenmedien sich stets in den Dienst der Propaganda stellen. Nach dem Vietnamkrieg hat auch und gerade im sogenannten 'Westen' eine Wende dahin stattgefunden, dass auf Seiten der Kriegspartei die öffentliche Kommunikation zu Propagandazwecken professionalisiert wurde und gleichzeitig die Bereitschaft zur Kritik durch private Medien abgenommen hat.

Todesspirale

Diese wurden regulär "eingebettet", durch Angebote zur Kooperation von Seiten der Verteidigungsministerien und anderer Regierungsstellen, durch den Drehtüreffekt zwischen Medien und Regierungen und ein weit verzweigtes Netz aus Mauschelei und Hinterzimmerjournalismus. Die soziologische Verengung der verantwortlichen Mitarbeiter in Medien und Politik auf einen Teil der Mittelschicht tut ein Übriges.

Die Zustimmung zu den Entscheidungen der Regierung muss kaum mehr erwirkt werden; sie besteht schon in der Identität derer, die den Zugang zu den entsprechenden Funktionen haben. Das Abweichen von der großen Linie, die von beinahe allen Politik- und Medienschaffenden geteilt wird, ist so aufwendig und riskant, dass es kaum je stattfindet, und die Meisten, die es dennoch tun, werden zügig aus dem System ausgeschieden. In dieser Verengung besteht eine weitere strukturelle Verdummung, die sich permanent selbst reproduziert.

p.s.: Kollege Mersmann hat heute Ähnliches.

 
dt

Als Schuldmanagement der Einzelnen, einem der wichtigsten Herrschaftsinstrumente, setzt Moral auf Vereinzelung, Bewertung und damit Konkurrenz. Sie ist wichtig, um die Hierarchien zu rechtfertigen und um als Machtmittel zu bestehen. Nur in gegenseitiger Bewertung, Aufwertung und Abwertung kann Moral ihre volle Wirkung entfalten.

Die Mitglieder von Gruppen, in der eine Moral als gültig anerkannt wird, müssen diese verinnerlichen und sie im Wirken ihrer selbst und anderer wiedererkennen. Jeder persönliche Erfolg korrespondiert mit Tugenden, Eigenheiten und Identitäten. In der extremsten Ausprägung ist unter solcher Moral jeder "seines Glückes Schmied". Jeder kriegt, was er verdient.

Eine auf Solidarität und gemeinsamen Erfolg ausgerichtete Gesellschaft hingegen kann solche Konkurrenz, Individualisierung und Hierarchiebildung nicht gebrauchen. Unmittelbar kontraproduktiv wirken sich Hierarchien aus, die auf verkrusteten Strukturen beruhen, deren Ursache wiederum in einer Moral zu finden ist, die es sich zur Aufgabe macht, das Bestehende je zu rechtfertigen.

Korrupte Hierarchien

Auf Kompetenz beruhende, temporäre Hierarchien ermöglichen starke Organisationsstrukturen. Wo aber solche Hierarchien, die funktional eben auf Kompetenz angewiesen sind, durch Erbfolgen und Seilschaften ersetzt werden, gerät der Vorteil der Hierarchie zum Nachteil. Hier wirkt Moral unmittelbar kontraproduktiv, weil sie eben bar aller vernünftigen Kriterien wertet. Nicht Wissen und Können bestimmen hier, sondern der Platz, den jemand aufgrund seiner Identität einnimmt.

Es bilden sich 'Eliten' ohne Kompetenz, die sich schlimmstenfalls nicht aufbrechen lassen, weil es keine Selbstbestimmung aller gibt, am Ende nicht einmal reale Mitbestimmung. Wenn die große Mehrheit nur mehr aus den verkrusteten Eliten auswählen darf, hat sie keinen Einfluss mehr. In Arbeitsprozessen hatte sie ohnehin nie ein Recht auf Selbstbestimmung, und selbst die schwache Mitbestimmung, die ihr teils zugebilligt wurde, wurde längst weitgehend wieder abgebaut.

Unter solchen Bedingungen wird es langfristig schwer, auch nur Profite zu generieren, weil Kompetenz in solchen Systemen zwar noch möglich ist, aber immer unwahrscheinlicher wird. Umso unwahrscheinlicher, je mehr Moral und PR-Sauce über den Status Quo gekippt werden, um wenigstens den Schein eines gesellschaftlichen Zusammenhalts zu wahren. Wo auch das scheitert, wird dieser umso lauter eingefordert, am Ende mit Gewalt.

   
dt

Die politische Repräsentation im Kapitalismus muss ein System von Stellvertretungen sein. Würde jeder Einzelne wirklich in die relevanten Entscheidungsprozesse einbezogen, könnten nicht Einzelne Eigentum in absurden Ausmaßen anhäufen. Kapitalismus kann aber nur funktionieren, wenn diesem Prozess keine Grenzen gesetzt sind. Es ist sein innerstes Prinzip, aus Geld mehr Geld zu machen, denn das definiert Kapital. Würde dem an irgendeiner Stelle Grenzen gesetzt, fiele der Motor aus.

In den Hierarchien sind Menschen an ihrem jeweiligen Platz. Moral hat die Funktion, die Besetzung dieser Plätze zu legitimieren, und dafür braucht sie die Individualisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. "Jeder kriegt, was er verdient", ist de tragende Wand der Ideologie, Ausnahmen betätigen die Regel. Anstatt die Einzelnen also gemeinsam für den Nutzen aller zu aktivieren, setzt die herrschende Moral und Ideologie auf einen Eigennutz, der fest in den Erhalt des Bestehenden eingebunden ist.

Kenne deinen Platz

Demokratie, die Gesellschaftsform, in der wirklich alle gleichberechtigt sind und die Interessen der Einzelnen mit dem Nutzen aller verbunden sind, erforderte hingegen Selbstbestimmung, mithin eben den Zugang aller zu den relevanten gesellschaftlichen Entscheidungen – Direkte Demokratie. Technisch ist dies längst möglich und würde durch die Kommunalisierung von Entscheidungen noch einmal vereinfacht.

Wenn die unterste, lokale Ebene die höchste Autorität hat, haben die Entscheidungsträger die höchste Kompetenz, weil sie eben einen Großteil der Gegebenheiten aus persönlicher Erfahrung kennen. Überregionale Entscheidungen sind demnach eine Frage der Koordinierung teilsouveräner, kommunaler Verbände.

Was nicht sein darf

Auch daran können in Zeiten vernetzter Kommunikation alle Betroffenen, egal auf welcher Ebene, direkt beteiligt werden. Die gängige Moral malt hier die hässlichsten Teufel an die Wand und warnt davor, dass die Einzelnen doch gar nicht die Kompetenz hätten, an jeder Entscheidung mitzuwirken. Dagegen gibt es reichlich Argumente, genannt sei hier nur der Hinweis auf die durchschnittliche Kompetenz aktueller Entscheider.

Zudem würden stete Anforderungen an die Kompetenz aller die Entwicklung des Bildungsniveaus sicher nicht beeinträchtigen. Aus der Darlegung ergibt sich im Übrigen nicht, Direkte Demokratie könne den Kapitalismus überwinden. Vielmehr wird es keine solche geben, solange dieser die Bedingungen vorgibt.

   
dt

Kompetenz gilt als aus der Mode gekommen. Überhaupt ist die Moderne im Endkapitalismus nur mehr Fashion. Diskurse, die dereinst von Intellektuellen angestoßen und beeinflusst wurden, sind heute Meinungssphären unter der Leitung sogenannter Influencer.

Tragisch daran ist nicht nur der allgemeine Niveauverlust, sondern ebenso die Trümmerlandschaft dessen, was einmal Sozialverhalten war. In ihr gedeiht der Autoritarismus, denn wo Meinungen – auch und vor allem politische – ein Produkt der medialen Mode sind, kann beliebiger Inhalt zugeführt werden, der vom Mob gierig aufgenommen wird wie alles, was in Fashion ist, um sogleich Jagd auf diejenigen zu machen, die out sind.

Mobbing wird folgerichtig und zwangsläufig das Medium der politischen Auseinandersetzung, wo die Landschaft sich teilt in diejenigen, die zustimmen, tragen, was alle tragen, gut, schön und wahr finden, was eben en vogue ist, und die Anderen, die halt nicht dazugehören. Das sind eben die Parias.

Circenses

Das Spiel ist fürchterlich durchschaubar, niemand bleibt unentdeckt, der nicht mit den Wölfen heult. Moral will es so und nicht anders, ist sie doch im Kern immer das Mittel der Diskriminierung. Wir sind die Guten. Wer nicht für uns ist, ist der Feind. Jenseits eines intellektuellen Diskurses, in dem es um Inhalte geht, immer unabhängig von Personen, ist jedes Argument nur simuliert, denn es zählt nur das des Mobs und niemals eines der Parias.

Als mediale Verkaufsschau ist eine Diskussion die Metasimulation dessen, was einmal der Wahrheitsfindung diente. Die Regeln wurden insgeheim durch totale Moralisierung ersetzt, der Ablauf so orchestriert, dass, was einmal Moderation war, durch eine Aufsichtsperson ersetzt wurde, die für das nötige Ungleichgewicht sorgt, sollte doch einmal ein Paria überzeugend zu Wort kommen.

Das ganze Brimborium markiert das Endstadium des Parlamentarismus, in dem das Parlieren zum Selbstzweck mutiert, dessen letzter Zweck eben in der dumpfen Reproduktion des Bestehenden liegt. Wer die Medien kontrolliert, ihre Agenda und die moralische Wertung, herrscht total. Den Rest besorgt der Mob, der keinen Diktator braucht und keine Todesdrohung, um eifrig jeden Abweichler vom aktuell Guten zu eliminieren.

 
zara

Kann man sich einen Meinungsaustausch vorstellen, der auf Moral und emotionalisierende Appelle verzichtet? Wohl kaum. Der Wissenschaftliche Diskurs, sofern er sich – was man im Betrieb wahrlich auch nicht durchgängig vorfindet – an die eigenen Regeln der Wissenschaftlichkeit hält, ist der Disput eben um das, was ist, was möglich ist, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Darin besteht das Ziel des Austauschs.

Bei entsprechend strenger Auslegung der Regeln ist gesichert, dass vor allem stets geklärt ist, worin der Gegenstand der Betrachtung besteht, was es über ihn zu wissen gibt und was nicht. Es darf in diesem Diskurs keinen Vorteil versprechen, eine Beschreibung der Realität gegenüber einer andern vorzuziehen oder abzulehnen, und emotionale Prioritäten haben darin schon überhaupt nichts zu suchen. Wo derartiges auch nur toleriert wird, ist der wissenschaftliche Erkenntnisprozess am Ende.

Ereignis, Erkenntnis, Glaube

Produkte, die aus solchen Strukturen hervorgehen, können dann ggf. noch auf dem Meinungsmarkt verklappt werden, schlimmstenfalls entstehen sogar Zweige nur so genannter Wissenschaft, die nur darauf ausgerichtet sind, zumal in 'Geisteswissenschaften', in denen es als "Forschung" gilt, Texte auf Basis von politischen Glaubenssätzen zu produzieren. Ihnen ist gemein, dass sie entweder schon nicht falsifizierbar und damit hinfällig sind, oder sogenannte Wahrheiten behaupten, die sich nicht reproduzieren lassen. Insofern liefern sie eben statt Erkenntnissen selbst nur Meinungen.

Der Journalismus hatte sich – zumindest in seinen ideologischen Selbstbeschreibungen – Regeln auferlegt, die der Wissenschaftlichkeit ähnlich und an diese angelehnt sind. Im Fokus dieser Regeln lag vor allem das Berichten und Beschreiben von Ereignissen, die Wahrhaftigkeit und Prüfbarkeit der Reportage. Man kann also sagen, dass ein Journalismus der höchsten Qualitätsstufe dem Ereignis so viel Respekt zollt wie die Wissenschaft der Erkenntnis. Meinung und die mit ihr transportierte Moral – ebenso wie umgekehrt – machen solche Qualität zunichte und verkehren das Bemühen in sein Gegenteil.

 
ss

Die Polarisierung durch Moral steigert sich in der Massengesellschaft zur reinen Waffe. Da sie das Innen und Außen markiert, strikt zwischen zwei Werten entscheidet, deren Bestimmung durch keine Rationalität eingeschränkt ist, Emotionen schürt und spontane, unreflektierte Reaktionen hervorruft, macht sie das in einer durch hoch getaktete Massenmedien geprägte Kommunikation zu einem Instrument stetigen Pogroms. Die Verstärkung durch Medien, die Profite erzielen müssen und daher schon selbst auf das Erzählen von emotional aufgeladenen Geschichten angewiesen sind, tut ein Übriges.

Engt sich dann noch der Diskurs ein, indem eine Ideologie die Oberhand gewinnt, sinkt das Niveau der öffentlichen Kommunikation auf das eines aufgescheuchten Mobs auf der Suche nach Abweichlern. In Kriegszeiten kommen Wahrheit und Vernunft daher nicht zufällig zuerst unter die Räder, weil die vermeintliche Existenz eines Feindes alle diejenigen Projektionen loslässt, die älteste menschliche Hordeninstinkte ansprechen. Das da drüben ist dann das Monströse Übernatürliche, das im Gegensatz zu solchem göttlichen Ursprungs nicht besänftigt wird, sondern angegriffen und überwältigt werden kann: Der Feind.

Viel Feind, viel Teufel

Der Feind ist die Verschmelzung des Teufels mit denen, die nicht dazugehören. Das Feindschema fällt noch hinter die Kultur des Sündenbocks zurück, in der immerhin keine Menschenopfer mehr stattfinden. Krieg und Feindrecht bringen die Kultur als solche an den Rand ihrer Wirksamkeit. Vergewaltigen, plündern, foltern, morden sind dabei immer auch eine Erinnerung daran, dass die Subjekte in der Zivilisation Unterworfene sind und sich die sprichwörtlich entfesselten Triebenergien bei solchen Gelegenheiten eben entladen. Freud hat dazu in "Das Unbehagen in der Kultur" viel Richtiges gesagt.

Die Narrative der Kriegspropaganda sind nicht wirklich ein Extrembeispiel, sondern eher die Essenz des Einsatzes von – immer moralisch aufgeladenen – Narrativen in der öffentlichen Kommunikation. Emotionen bringen Einschaltquoten und Klickzahlen, und selbst völlig fiktionale Formate wie Liebesgeschichten werden mit moralischen Verstärkern ausgestattet. Man findet diese schon in den Kitschromanen vergangener Jahrhunderte, in denen der ehrbare Geliebte sich gegen den Schurken an der Seite der Liebsten bewähren muss, aber ebenso in mit vermeintlichen Tabus ausgeschmückten Geschichten 'verbotener' Liebe in Serien oder Filmen bis hin zur Pornographie.

Die Tragödie der Auserwählten

Moral ist spannend, geil und attraktiv. Sowohl der Verstoß als auch das Befolgen ihrer Regeln – und hier besonders der Einforderung gegenüber Dritten – erregen Aufmerksamkeit und binden den Rezipienten an die Geschichte. Spätestens seitdem "Storytelling" zu einem der, wenn nicht dem wichtigsten Element der Nachrichtenproduktion geworden ist, haben Narrative eine erhebliche Macht über die Gesellschaft.

Da in ihnen stets festgelegt ist, wer die Guten sind und wer die Bösen, haben sie in der modernen Massengesellschaft eine sehr ähnliche Funktion wie das antike Theater. Das geht quasi so weit, dass noch die lächerlichste Figur in Regierungsdiensten ernst genommen werden muss. Für die gekrönten Häupter ist die Tragödie das Medium. Für die niederen Chargen, und nur für sie, gibt es die Komödie.

Ein plapperndes Fräulein, das angesichts des drohenden Atomkriegs Hüpfspiele im Atombunker macht? Der 'mächtigste Mann der Welt', der als ersichtlich dementer, desorientierter Greis noch einmal für das Amt antritt? Darüber spricht man nicht, wenn es eben hohe Minister oder Präsidenten sind. Es sei denn, selbstverständlich, sie wären Feinde. Die sind grundsätzlich so lächerlich wie böse, brutal und verschlagen. Wenn man es recht bedenkt: So zivilisiert ist die Zivilisation nicht wirklich, und der moralische Kern ihrer überkommenen Struktur ist nicht zu leugnen.

 
ss

In politischen Betrachtungen wird meist auf Herrschaft fokussiert, was der Erkenntnis einen Mühlstein um den Hals bindet und sie von der Brücke stürzt. Damit zieht erstens der Idealismus in die Betrachtung ein, der eine Welt aus Willen und Vorstellungen halluziniert, und zweitens werden die schwächsten wirksamen Kräfte zu Ungunsten der deutlich stärkeren als die buchstäblich entscheidenden betrachtet.

Ordnungen lassen sich aus bestimmten Ansichten sinnvoll als Herrschaftsformen betrachten; sie sind aber nur ein Aspekt unter vielen, die eine Ordnung und ihr Funktionieren beschreiben. Gerade im Spätkapitalismus wird deutlich, dass die Wirklichkeit der Menschen und ihrer Gesellschaften nicht allzu stark davon abhängt, ob ihre Verwalter gewählt, bestimmt, gekrönt oder an die Macht geputscht wurden. Ist die US-Oligarchie, die ausschließlich von Multimillionären repräsentiert wird, die von noch potenteren Geldgebern abhängig sind, wirklich demokratischer als China?

Regelbasiert

Ist die Zensur von Feindsendern in 'Demokratien' besser als in sogenannten "Diktaturen"? Ist der Vernichtungskrieg durch eine Demokratie besser als der durch eine Junta? Ist politische Justiz durch die Gesetze einer Demokratie schöner und gerechter? Stirbt es sich im Krieg für Freiheit wirklich heroischer?

Die Kräfte jeder gesellschaftlichen Ordnung werden nicht zufällig selbst im vermeintlichen Optimalfall "Gewalten" genannt. Am Ende der Nahrungsketten von Machtausübung stehen immer Knüppel und Gewehre. Inwieweit diese zum Einsatz kommen, bestimmt aber längst nicht die Laune eines Mannes am Ruder, sondern die Notwendigkeiten, die sich aus dem Selbsterhalt politischer Gebilde ergeben. Das hat nichts mit Ideologie oder ihrer Moral zu tun. Letztere ist bloß die sprachliche Garnierung von Regeln, die sich selbst schreiben.

Wie so oft, sei darauf hingewiesen, dass es kleine Zeitfenster gibt, in denen sich Ordnungen, Herrschaftsformen und Ideologien verändern. In diesen Zeiten, auch als "Revolutionen" bekannt, formieren sich gelegentlich neue Gesellschaften – die allerdings in der Regel auch auf neuen ökonomischen Bedingungen beruhen. In Umwälzungen und Übergangsphasen geht es auch ohne Ideologie, dann etablieren sich Clanstrukturen und die Herrschaft von Warlords, die im größeren Maßstab Tyranneien sind.

Ethik vs. Moral

In dieser Formation verbindet sich quasi organisch die örtliche Gewalt mit einer Variante natürlicher Ordnung. Sie ist gemeinhin instabil, weil sie durch ein Übermaß an Gewaltausübung keine dauerhafte Zustimmung findet, und weil das Recht des Stärkeren eben dazu führt, dass Letzterer immer wieder ein anderer ist.

Herrschaft braucht Moral, um zu überdauern, denn sie zielt nicht darauf ab, die Interessen möglichst reibungsarm zu organisieren. Sie ist immer die Organisation der Interessen weniger, die eben über die Ressourcen dazu verfügen. Im Kapitalismus ist es der kumulierende Reichtum, dessen Eigentümer im Gegensatz zum Prinzip der Oligarchie austauschbar sind.

Die durchsichtige Ungerechtigkeit dieser Herrschaft muss durch Moral (und ihre Religionen) gerechtfertigt werden. Ethik braucht diese nicht, weil sie die Wissenschaft genau jener Ordnung wäre, die die Interessen aller im Sinne gesellschaftlicher Stabilität organisiert.

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