Moral und Emotionen bleiben nicht nur im Gedächtnis länger haften als rationale Erwägungen; ein einmal gefälltes Vorurteil ist in einem nicht durch rationale Barrieren begrenzten Diskurs kaum mehr zu revidieren. Wer je mit dem Missbrauch von Kindern öffentlich assoziiert wurde, ist gesellschaftlich erledigt. Nicht wesentlich besser ergeht es Männern, die mit dem Vorwurf belastet werden, sie hätten sich an Frauen vergangen.
Die Jurisprudenz verlangt aus besten Gründen Beweise, die über begründeten Zweifel erhaben sind, um einen Beklagten zu verurteilen. Die Öffentlichkeit und ihre moralischen Urteile kommen ohne dergleichen aus. Die Emotionalisierung diesbezüglicher Fälle führt sogar zu einer doppelten Verkehrung der Unschuldsvermutung.
Empörender Verdacht
Nicht nur führen ausgerechnet besonders schwere Vorwürfe am ehesten zu Vorverurteilungen; ein aufgewühltes vermeintliches Gerechtigkeitsgefühl reagiert gerade auf Freisprüche noch einmal emotionaler, wenn die Einsicht in die Rationalität des Verfahrens dem Verlangen nach Genugtuung zum Opfer fällt.
Die ethischen Bemühungen eines modernen Strafrechts, das in jedem Einzelfall stets das Allgemeine im Blick haben muss, weil es eben um die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung geht, sind der immer vermeintlich höheren Moral ein Dorn im Auge. Mehr noch: Moral steht der Ethik regelmäßig feindlich gegenüber.
Wem die praktischen Ergebnisse des Strafrechts nicht passen, der glaubt in der Regel, es sei daher ungerecht und müsste korrigiert werden. Einhergehend mit der schon genannten Tendenz, nach immer 'härteren' Strafen zu rufen, kann das Strafrecht als ethisches System vor keiner Moral bestehen.
Total korrupt
So ergeht es folgerichtig auch wegweisenden Entscheidungen und Urteilen in komplexen Präzedenzfällen, dass sie in der Öffentlichkeit gar nicht zur Kenntnis genommen werden. Sie können noch so wichtig sein für die Orientierung in der Rechtspraxis und faktisch einen höheren Rang haben als Gesetze; wenn sie nicht zu allgemeiner Empörung oder Sensation taugen, wird man sie jenseits der Expertenkreise nicht weiter diskutieren, wohingegen jedes Amtsgericht belagert wird, wenn der Fall dazu taugt, Aufsehen zu erregen.
Insofern findet das ethische Werk der Gerichte grundsätzlich im Dunkeln statt, während moralisch aufladbare Nebensächlichkeiten leicht den Weg in die Öffentlichkeit finden. Dies beeinflusst wiederum die Wahrnehmung von Gerichten und ihrer Arbeit. Sie ist völlig verzerrt und trägt dazu bei, dass die meisten Bürger eine naive, unmündige Vorstellung von dem Staat entwickeln, in dem sie leben.
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