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Reaktionen auf den Mord von Idar-Oberstein wie "Jetzt ist es soweit" halte ich für übertrieben. Irre wie der Täter werden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auffällig, womöglich eben auch in Form von Mord. Ich will durchaus eingehen auf die Hintergründe in Form von Narrativen, zunächst aber kurz wiederholen, was ich bereits in den Kommentaren sagte:

In der Krise des Kapitalismus und allgemein Phasen der Dekadenz, des Zusammenbruchs von Ideologien, ist das zwangsläufig zu beobachten: Rückzug ins Private, rebellischer Chauvinismus und rechter Terror, gern belächelt und geduldet bis gefördert von denen, die sich am Status Quo festbeißen, der längst bröckelt. Eben daher auch alles andere als ein Zufall, dass Nazis mit den Wutbürgern marschieren. Der Mörder ist freilich ein Symptom – in der Tat ein Fall, der mit der gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit auftritt.

Einer muss es tun

Hier erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Gewalttaten auf mehreren Ebenen. Die eben genannte und diejenige, die sich durch eine Atmosphäre ergibt, die (ebenfalls in den Kommentaren verlinkt) sich durch fortgesetzte Entmenschlichung ergibt. Das kann die Erzählung von der "Umvolkung" sein oder die von einer Diktatur, deren ausführende Kräfte schließlich alle sind, die für die Einhaltung geltender Regeln sorgen. Sie sind keine Mitmenschen mehr, sondern Feinde.

Dazu gesellt sich eben das Muster, geliefert von einer US-geformten Kulturindustrie, in der der einsame Rächer gefeiert wird (ggf. auch in Kleingruppen mordend), der auf seiner 'gerechten' Vendetta inzwischen im Sekundentakt den Untermenschen (sie haben seinen Hund getötet!) ins Gesicht schießt. Solche Brutalität ist zwar Teil von Fiktion, aber eben durchaus auch ein (Männlichkeits-)Ideal. Frauen dürfen das im Zeitalter von Genderneutralität auch. Je effektiver sie töten, desto mehr Respekt wird ihnen zuteil.

Fatal wirkt sich dabei der Umstand aus, dass Menschen sich zu Narrativen verhalten, nicht zu Analysen. Entscheidungen sind fast ausnahmslos eingebunden in Glauben, Vertrauen, Meinungen, mithin in über Erzählungen vermittelte Rollen. Entscheidend sind hier Autoritäten, Weltbilder (bis hin zum Wahn oder einer Märchenwelt) und Moral. Klare rationale Einsichten sind Mangelware und werden höchstens als Wertung von Autoritäten in Meinungen umgewandelt.

Helden, Schurken, Taten

In dieser Struktur gibt es Helden (Hildmann, Schiffmann, Bhakdi, Wodarg, Fuellmich) und Schurken (Merkel, Drosten, Lauterbach, Spahn). Die Helden riskieren alles, um Gutes zu tun (aufklären, Menschen retten, Freiheit erkämpfen), während die Schurken Untaten begehen (lügen, Kinder quälen oder ermorden, Diktatur errichten, Menschen versklaven). Das ist die Erzählung, die inhaltlich je nach Grad des Realitätsverlusts ausgeschmückt wird.

Wie so oft ist das auch ein Folge der Herrschaftstechniken, die sich wiederum daraus ergeben, dass der Erhalt (je)der Macht stets durch Transparenz gefährdet wird. Nicht zuletzt weiß auch die Propaganda, dass Gegenpropaganda sich der Schwächen der herrschenden bedient. Zudem hat der Kapitalismus wie die Herrschaftsformen vor ihm einen guten Grund, die Realität zu verschleiern: Er muss, um ideologisch nicht zu scheitern, seinen Kern verbergen. Der ist nämlich irrational, unethisch und in seiner Zerstörungsmacht unerreicht effektiv. So kommt eines zum anderen.